Quickline Handball League • 02.04.2020
Seit dem abrupten Ende der Saison sind drei Wochen vergangen. Im Interview erzählt Nationalspieler und Pfadi-Flügel Marvin Lier aus der Perspektive eines Spielers, wie er die letzten Tage erlebt hat, was die Vorgaben des Bundes für ihn und sein Team bedeuten und worauf er trotz des Abbruchs mit Freude zurückblickt.
handball.ch: In diesen kritischen Zeit zunächst mal die Frage: wie geht es dir?
Marvin Lier: „Meinem Umfeld, meiner Mannschaft und mir geht es glücklicherweise gut.“
Wie hast du die letzten zwei Wochen seit dem Abbruch der Meisterschaft erlebt?
Marvin Lier: „Es war eine sehr turbulente Zeit. Irgendwie war das Virus vor wenigen Wochen noch so weit entfernt und jetzt sind wir mitten drin. Ein solches Ausmass hätte ich mir niemals vorstellen können. Eigentlich ist mir der Ernst der Lage erst so richtig bewusst geworden, als wenige Stunden vor unserem Meisterschaftsspiel gegen GC Amicitia das Spiel zuerst verschoben wurde und dann die Entscheidung zum Saisonabbruch kurz darauf folgte. Das war für alle Beteiligten eine ganz neue Erfahrung und im ersten Moment auch ein Schock. Danach ist aber jedem klar geworden, dass wir alle unseren Teil dazu beitragen müssen, um die Krise möglichst schnell in den Griff zu bekommen. Dies bedeutete natürlich in erster Linie Zuhause zu bleiben und sofort den gemeinsamen Trainingsbetrieb einzustellen.“
Wie geht ihr bei Pfadi mit der aktuellen Situation um?
Marvin Lier: „Da wir nach dem letzten Meisterschaftsspiel einer Saison immer eine zweiwöchige Trainingspause abhalten, ist bis heute rein trainingstechnisch, noch kein grosser Unterschied zu bemerken. Ab dieser Woche würde jedoch der Trainingsbetrieb regulär wieder aufgenommen. Da müssen wir nun mit individuellen Lösungen und Trainingsplänen vorlieb nehmen. Wir werden nun eine lange Vorbereitungsphase einschieben. Seit Montag haben wir einen genauen Trainingsplan, bestehend aus drei verschiedenen Krafteinheiten, in Kombination mit Beweglichkeitsübungen. Dazu kommen zwei sehr intensive Laufeinheiten mit Bergsprints und Intervallläufen. Am Sonntag ist dann Regeneration angesagt. Aber wie erwähnt, alles individuell und von Zuhause aus.“
Womit beschäftigst du dich in Zeiten von #stayhome? Gibt es Aufgaben zu Hause, vor denen du dich am liebsten drücken würdest?
Marvin Lier: „Ich beschäftige mich nun intensiver mit meinem Masterstudium (Erziehungswissenschaft an der Uni Zürich, Anm. d. Red.). Es ist schön, sich dafür jetzt richtig viel Zeit nehmen zu können. Weiter spiele ich wieder vermehrt Saxophon. Daneben bleibt dann auch noch Zeit, um bei der Betreuung der Nachbarskinder zu helfen und um den Risikogruppen oder Sponsoren im Umfeld von Pfadi mit Lieferdiensten oder Einkäufen behilflich zu sein. Am wenigsten mag ich momentan die regelmässigen Ausdauer- und Krafteinheiten. Es geht dabei nicht um die Einheiten an sich oder deren Inhalte, sondern um den Rahmen. Als Mannschaftssportler ist es sehr gewöhnungsbedürftig, ganz alleine seine Einheiten zu absolvieren. Man vermisst ganz einfach seine Teamkollegen und die Gruppendynamik, die einen motiviert und schlussendlich auch zu besseren Leistungen pusht. Ich ziehe meinen Hut vor den Einzelsportlern, aber auf lange Sicht, wäre das nichts für mich.“
"Ich denke nicht, dass die Restriktionen am 19. April enden"
Seine Prognose zu den Corona-Einschränkungen
Aus Deutschland hört und liest man von Gehaltsverzicht - ist das ein Thema, was bei euch auch schon diskutiert wurde?
Marvin Lier: „Der Gehaltsverzicht ist in diesen Tagen oft das einzige Mittel, was viele Vereine am Leben erhält. Sogar die grossen Bundesligavereine kämpfen ums Überleben. Dies ist bei uns leider nicht anders. Wir haben zusammen mit der Vereinsführung beschlossen, Kurzarbeit anzumelden. Damit verzichten wir Spieler und der Staff auf 20 Prozent unseres Gehalts, sowie jegliche Spesen. Nur mit solchen Eingeständnissen können wir dem Verein über diese schwere Zeit hinweghelfen. Zudem wollten wir als Team geschlossen ein Zeichen setzen, dass auch wir bereit sind, einen Teil der finanziellen Last zu tragen.“
Was denkst du, wie lange hält der Status quo noch an und welche Auswirkungen hat die derzeitige Situation auf unser zukünftiges Handeln und Verhalten?
Marvin Lier: „Ich hoffe, dass wir möglichst bald einen Weg aus der Krise finden. Dennoch rechne ich nicht damit, dass wir am 19. April so weit sind, die Restriktionen aufzuheben. Das hängt allerdings von uns allen und unserer Disziplin ab, sich an die Regeln zu halten. Ich glaube aber ebenfalls, dass man auch vieles aus solchen Krisenzeiten lernen kann. So bin ich der Meinung, dass beispielsweise das Homeoffice nun gezwungener massen aufgebaut wird und auch in Zukunft mehr Verwendung finden könnte.“
Im Gegensatz zur Meisterschaft sind die Länderspiele - wie alle Spiele auf EHF-Level - aktuell "nur" verschoben. Wie findest du das? Und wie behält man da den Fokus auf mögliche Playoffs in ein paar Wochen?
Marvin Lier: „Es ist eine sehr schwierige Situation. Ich kann mir momentan noch nicht vorstellen, dass man bis im Juni in allen Ländern soweit ist, dass man unter gleichen Bedingungen trainieren kann. Somit wäre für mich eine faire Vorbereitung auf die WM-Qualispiele nicht möglich und damit die gesamte Qualifikation in Frage zu stellen. Dennoch bin ich erst einmal froh, dass wir einige Verschiebedaten erhalten haben, da man so sein Ziel nicht aus den Augen verliert und man, wenn auch auf bescheidenem Niveau, eine gewisse Planungssicherheit bekommt.“
In welcher Form und über was tauscht ihr euch auf der Ebene Nationalmannschaft aktuell aus?
Marvin Lier: „Im Moment per Mail, WhatsApp und Telefon. Natürlich sind Diskussionen über mögliche Szenarien momentan präsent, dennoch geht es in erste Linie darum nachzufragen, ob alle gesund sind.“
"Ich bin selbstsicherer geworden"
Marvin Lier über seine Zeit in Deutschland
Kannst du trotz Saisonabbruch ein Fazit der letzten Monate ziehen? Mit dem Wechsel nach Flensburg und der EM war ja doch einiges geboten…
Marvin Lier: „Ein wirkliches Fazit zu ziehen fällt mir schwer. Entscheidend dafür wäre für mich natürlich das Abschneiden in den Playoffs gewesen. Darüber bin ich einerseits sehr enttäuscht, schliesslich hat man sich seit letztem Juni auf den Meisterschaftshöhepunkt vorbereitet. Auf der anderen Seite darf ich allerdings auch auf unglaubliche Momente in den vergangenen Monaten zurückschauen. Ich konnte mir mit dem Wechsel zu Flensburg und der Teilnahme an der EM gleich zwei, bislang kaum für möglich gehaltene Träume, erfüllen. Die Erfahrungen, die ich in dieser Zeit machen durfte, sind unbezahlbar und der Lohn für die vielen Jahre harter Arbeit.“
Was hat dich in deiner Zeit in Flensburg am Meisten beeindruckt?
Marvin Lier: „Die Kulisse an den Heimspielen, die in der ganzen Bundesliga berühmt und berüchtigt ist, war auch für mich etwas vom Schönsten. Wenn man jede Woche vor über 6‘000, teilweise frenetischen Zuschauern spielen darf, ist das kaum in Worte zu fassen. Dies zeigte sich auch bei meiner Verabschiedung am letzten Heimspiel. Die Wertschätzung des Publikums, für meine Leistung dem Verein gegenüber, ist für mich bis heute nur mit einem Wort zu beschrieben: Gänsehaut.“
Was hast du handballerisch aus der Zeit in Norddeutschland mitgenommen?
Marvin Lier: „Ich bin sicherlich noch etwas selbstsicherer geworden. Ich habe gesehen, dass ich auch auf diesem Niveau mithalten kann. Auch die Rückmeldungen der Mitspieler und der Trainer haben mir gezeigt, dass ich wohl nicht ganz alles verkehrt mache. Allerdings wurde mir auch bewusst, dass es ein sehr harter und langer Weg ist, zu einer entscheidenden Figur in einem internationalen Spitzenteam zu reifen.“
Hast du noch Kontakt zu Leuten von dort? Wenn ja, mit wem? Und wie geht man dort mit der Corona-Pandemie um?
Marvin Lier: „Ich habe in erste Linie noch Kontakt zu Marius Steinhauser. Leider ist auch bei ihnen der Spielbetrieb bis auf weiteres unterbrochen. Einige Spieler mussten sogar in Quarantäne. Zum Glück geht es allerdings allen gut. An ein gemeinsames Training ist jedoch auch für sie momentan nicht zu denken.“
Zum Abschluss noch ein Blick voraus: Was ist deine persönliche Zielsetzung jetzt, da du in Winterthur zurück bist?
Marvin Lier: „Ich möchte mich mit Pfadi weiterhin unter den Topmannschaften der Schweiz behaupten und auch in internationalen Wettbewerben Erfolge feiern. Zudem möchte ich mich mit der Nationalmannschaft für weitere Grossanlässe qualifizieren, um so den Schweizer Handball Schritt für Schritt weiter nach vorne zu bringen.“
Der SHV ist der nationale Fachverband und das Kompetenzzentrum für den Handballsport in der Schweiz.
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