Handball Suisse • 19.07.2022
Kaum ein deutscher Spitzensportler polarisiert so sehr wie Stefan Kretzschmar. Der ehemalige Weltklasse-Handballer nimmt kein Blatt vor den Mund – auch nicht, was die Schweiz und den hiesigen Handball angeht. Er glaubt den Grund zu kennen, warum es die Schweiz bislang noch nicht an die Weltspitze geschafft hat.
8. Oktober 1993. Tatort Schaffhausen. Die Schweiz empfängt Deutschland auf der Breite zum Testspiel. Marc Baumgartner wirft für die Nationalmannschaft elf Tore, die Deutschen siegen trotzdem mit 25:21 – auch wegen fünf Treffern eines Debütanten auf Linksaussen: Stefan Kretzschmar. Der heute 49-jährige Sky-Experte, der auf eine bewegte Handball-Karriere zurückblicken darf, mag sich noch gut an diesen 8. Oktober erinnern. «Es war schicksalshaft», so «Kretzsche».
Man sei sich in Deutschland sicher gewesen, dieses Spiel zu gewinnen. Also habe Trainer Arno Ehret auf Linksaussen zwei Neulinge gebracht. «Ich durfte die erste Halbzeit ran, Christian Scheffler in der zweiten. Wir waren ähnlich talentiert. In dieser Partie gegen die Schweiz gelangen mir aber fünf Tore, Christian lediglich eines. Fortan wurde nur noch ich eingeladen», sagt Kretzschmar mit einem Grinsen und fügt ein «Danke, liebe Schweiz!» an. Scheffler brachte es zwar nicht auf so viele Länderspiele wie Kretzschmar (218), lief aber doch noch 49mal für die deutsche Nationalmannschaft auf.
Viel Bewunderung für Andy Schmid
Nicht nur diese Anekdote verbindet Kretzschmar mit der Schweiz. Der Sportvorstand des Handball-Bundesligisten Füchse Berlin ist einer der grössten Bewunderer von Andy Schmid. «Bei ihm gehen mir die Superlative aus», so der Deutsche. Vor wenigen Wochen, als Schmid seine letzten Auftritte als Spieler der Rhein-Neckar Löwen hatte, adelte ihn die deutsche Handball-Ikone Kretzschmar auf Twitter mit den Worten: «Ein Virtuose, ein Zauberer – du wirst uns fehlen, Andy.» Mehr Anerkennung geht nicht. Und während Schmids besten Jahren in Mannheim forderte er gar eine Einbürgerung des Schweizers.
So weit ist es nie gekommen, Schmid läuft noch immer für die Schweizer Nationalmannschaft auf. Was aber verbindet «Kretzsche» und Schmid? Nie haben sie in der Bundesliga gegeneinander gespielt, aber sie seien «Freunde im Geiste», so Kretzschmar. Er schätzt den Schweizer als «unfassbar guten Typen» und holt bei Transfer-Angelegenheiten der Füchse schon auch mal die Meinung von Schmid ab. Bemerkenswert, verbinden die Mannheimer und die Löwen doch auch eine grosse Rivalität.
Den Wechsel zum HC Kriens-Luzern in diesem Sommer hätte Kretzschmar an Schmids Stelle aber nicht vollzogen. Gleichzeitig hat er viel Verständnis, dass er es trotzdem getan hat. «Irgendwann ordnet jeder sein Leben der Familie unter. Das ist auch gut so und die Work-Life-Balance in Luzern wird besser sein als in der Bundesliga.» Trotzdem ist sich der 49-Jährige sicher, dass Schmid als Trainer zurückkehren wird. Er habe dem Schweizer schon im Februar, als Löwen-Coach Kristjan Andersson gefeuert wurde, geraten, das Zepter an der Linie zu übernehmen und die Nachfolge seines Coaches anzutreten. «Aber Andy macht jetzt einen wohlverdienten Umweg über seine Heimat.»
Skepsis gegenüber der Schweizer Liga
Stefan Kretzschmar ist ein Kenner des deutschen Handballs. Für Blau-Weiss Spandau, Gummersbach, Magdeburg und die deutsche Nationalmannschaft hielt er während 16 Jahren seine Knochen hin. In der Zwischenzeit ist er Sky-Handball-Experte und Sportdirektor bei den Füchsen Berlin. Denkt er auch über Schweizer Transfers nach? «Ich lasse mir immer wieder vom Schweizer Markt berichten. Es soll nicht despektierlich klingen, aber ich würde für die Füchse wohl keinen Spieler direkt aus der Schweiz verpflichten.»
Das Beispiel Lenny Rubin zeige aber, dass es ein Spieler aus der QHL durchaus an die Spitze schaffen könne. Ihm traut Kretzschmar zu, in Bälde auch für einen Top-Klub aufzulaufen. Bei Lucas Meister schätzt er seine Physis und Aggressivität, mit Nikola Portner hat sich «Kretzsche» gar mal über einen Transfer zu den Füchsen unterhalten. Mittlerweile ist Nationaltorwart Portner zum besten Goalie Frankreichs der vergangenen Saison ausgezeichnet worden und wechselt diesen Sommer zum neuen deutschen Meister Magdeburg. «Nikola hat ein Riesen-Potential. Als Füchse-Sportdirektor hoffe ich es nicht, aber ich würde es ihm gönnen, wenn er auch in der Bundesliga durchstarten würde.»
«Milosevic-Rücktritt wird Leipzig weh tun»
Zu einem anderen Schweizer hat Kretzschmar eine ganz besondere Beziehung. Denn sowohl er selber als auch der Berner Alen Milosevic haben beim SC DHfK Leipzig ihre Spuren hinterlassen - und das zur selben Zeit. 2009 begann der heute 49-Jährige als ehrenamtlicher Aufsichtsrat bei Leipzig, das in dieser Saison noch in der Oberliga spielte. Vier Jahre später, im Sommer 2013, schloss sich Alen Milosevic den mittlerweile in der 2. Bundesliga spielenden Leipzigern an. Wieder zwei Jahre später gelang dem Klub mit Kretzschmar im Aufsichtsrat und Milosevic am Kreis der viel umjubelte Aufstieg.
«Kretzsche» meint über seinen ehemaligen Weggefährten: «Die Karriere von Alen Milosevic ist fast noch überraschender als jene von Andy Schmid. Kaum einer hat es geschafft, aus einem solch überschaubaren Talent so viel zu machen wie Milosevic.» Der Berner, der seine Karriere vor wenigen Wochen als Leipzig-Kapitän beendete ist in Ostdeutschland längst eine Klublegende. Nach seinem letzten Heimspiel wurde Milosevics Trikot mit der Nummer 34 unter das Hallendach gezogen – eine Ehre, die in Handball-Deutschland bislang nur ganz wenigen Handballern zu teil wurde. Kretzschmar, der nach sechs gemeinsamen Saisons mit Leipzig den Verein im Sommer 2019 verlassen hat, sagt abschliessend über den Schweizer: «Sein Rücktritt wird Leipzig noch sehr weh tun.»
Die Schweiz und der Plan B
Warum aber haben es bislang nur einzelne Schweizer Spieler auf internationales Spitzen-Niveau geschafft? Warum blieb es der Schweizer Nationalmannschaft bislang verwehrt, sich in der erweiterten Weltspitze zu etablieren? Kretzschmar, in seiner Aktiv-Karriere ein Kämpfer vor dem Herrn, glaubt den Grund zu kennen. Für den maximalen Erfolg, egal ob als Einzelsportler oder im Team, brauche es vor allem Leidenschaft! Und in diesem Zusammenhang sei hierzulande ein entscheidendes Manko festzustellen. «Der durchschnittliche Schweizer Nationalspieler ist gut und talentiert. Aber sein grösser Wunsch ist es nicht, eine Olympia-Medaille zu gewinnen oder ganz oben anzukommen. Ihr Schweizer habt alle einen Plan B!»
Kretzschmar spricht die Tatsache an, dass das Gros aller QHL-Spieler neben dem Handball noch einer Arbeit oder einem Studium nachgeht. Er selber hat diese Möglichkeiten und Perspektiven nicht. Der in der DDR gross gewordene Kretzschmar setzt früh alles auf den Handball. Sein Glück ist, dass er in Berlin entdeckt wird und in Gummersbach so wenig Ablenkung hat, dass er durchstarten kann, wie er erzählt. Zu einem «Plan B» neben dem Handballsport würde er wohl auch seinen Kindern raten, gibt Kretzschmar unumwunden zu. «Allerdings, wenn Du nicht alles dem Handball unterordnest, verlierst Du so die Möglichkeit, der Beste der Welt zu werden.»
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